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Rüdiger Safranski: Zeit. Was sie mit uns macht und was wir aus ihr machen.

Getreu dem Untertitel seines Buches nähert sich Safranski der Zeit «auf der Spur ihrer Wirkungen» (12). Das erste Kapitel ist der «leeren Zeit» der Langeweile gewidmet: In der Langeweile zeigt sich das Vergehen der Zeit gleichsam nackt, ohne durch Geschehnisse verdeckt zu sein. Hier erwähnt Safranski (28f.) auch Blaise Pascal und dessen Gegenüberstellung von Langeweile und Zerstreuung (ennui und divertissement). Zu diesen Begriffen kann man bei Gebser lesen: «‚Ennui‘ und ‚divertissement‘ sind Ausdrücke dafür, daß der Mensch auf der Suche nach der echten Zeit ist. Denn der Mensch müßte eigentlich, wie Pascal schreibt, fähig sein, ‚ruhig in seinem Zimmer zu sitzen‘, also Zeit zu haben.» (Ursprung und Gegenwart, S. 546) Für Gebser (den Safranski allerdings nirgends erwähnt) ist in Pascals Auseinandersetzung mit der Langeweile ein erster Versuch zu erkennen, die Zeit aus ihrer Verräumlichung zu befreien und die «echte Zeit» zu finden. Auch für Heidegger war die Auseinandersetzung mit der Langeweile ein bedeutender Weg zum Verständnis der Zeit, wie seine wichtige Vorlesung «Grundbegriffe der Metaphysik» von 1929/30 zeigt, auf die Safranski ebenfalls eingeht (vgl. 35–40).

Doch nach Pascals Versuch, die «echte Zeit“ zu finden, ist in der Geschichte des neuzeitlichen Europas zunächst etwas ganz anderes zu beobachten: Die Uhrenzeit setzt sich durch und unterwirft alles ihrer Herrschaft. Dieser Vorgang wird von Safranski gut beschrieben, vor allem im vierten Kapitel seines Buches, das von der «vergesellschafteten Zeit» handelt. Dort heißt es in Übereinstimmung mit Gebser: «Die immer subtileren Techniken des Messens haben dazu geführt, dass im allgemeinen Bewusstsein die Zeit selbst gerne verwechselt wird mit den Instrumenten, mit deren Hilfe man sie misst.» (87)

Nachdem die Uhrenzeit ihren Siegeszug angetreten hat, wird in Europa immer mehr der Vergangenheitsbezug durch den Zukunftsbezug ersetzt. Während noch im europäischen Mittelalter der Vergangenheitsbezug dominiert (vgl. 102f.), wird in der Neuzeit die Ausrichtung auf die Zukunft bestimmend. Safranski beschreibt dies vor allem im dritten Kapitel seines Buches unter dem Titel «Zeit der Sorge». Die Sorge richtet sich auf die Zukunft eines Anderen, um den man sich sorgt, oder auf die eigene Zukunft. Einen Kulminationspunkt erreicht die sorgen- und hoffnungsvolle Ausrichtung auf die Zukunft in der gegenwärtigen «Risikogesellschaft», die von Safranski auf mehreren Seiten beschrieben wird (vgl. 78–80). All diese Entwicklungen deutet Safranski als Spätfolgen jüdischer und christlicher Eschatologie, die die zyklische Zeit des Mythos durch den Zeitpfeil ersetzt hat (vgl. 134 und 144f.). Die Moderne hat die christliche Jenseitshoffnung nicht abgeschafft, sondern säkularisiert.

Als extremen Kontrast erwähnt Safranski einen indigenen Stamm aus dem Amazonasgebiet, der von dem Ethnolinguisten Daniel Everett beschrieben worden ist. Gebser würde diesem Stamm eine «magische Bewusstseinsstruktur» zuschreiben, denn er lebt in Zeitlosigkeit. Dies zeigt sich daran, dass seine Sprache kein Futur II besitzt und dass er «Zukunftssorgen offenbar nicht kennt.» (75)

Besonders im fünften Kapitel «Bewirtschaftete Zeit» wird Safranski zum Kritiker unseres gegenwärtigen Umgangs mit der Zeit. Er kritisiert den «Zwang zur Beschleunigung» (115), den der Kapitalismus mit sich bringt. Die Finanzkrise bezeichnet Safranski als eine «Krise bei der Bewirtschaftung von Zeit» (117). Demgegenüber könne die Erfahrung der «zyklischen Zei» (133) ein «Gefühl des Beharrens» (ebd.) vermitteln: «Die Perspektive der zyklischen Zeit entdramatisiert und dämpft Hysterien.» (134)

Der philosophisch-phänomenologische und historische Zugang zum Thema «Zeit» wird im siebten Kapitel durch den naturwissenschaftlichen Zugang ergänzt. Hier stehen Einsteins Relativitätstheorien (die spezielle und die allgemeine) im Mittelpunkt, deren Folgen für das Zeitverständnis gut verständlich erklärt werden. Es wird deutlich, dass die Vorstellung einer homogenen Zeit für alle Ereignisse (wie sie noch Newton postulierte) verabschiedet werden muss, wenn man Einsteins Ergebnisse ernst nimmt. Stattdessen hat alles gewissermaßen seine «Eigenzeit».

Das Thema «Eigenzeit» steht passenderweise im Mittelpunkt des darauffolgenden achten Kapitels. Eigenzeiten sind im Unterschied zur Normierung durch die gesellschaftliche Konvention der Uhrenzeit durch individuelle Rhythmen geprägt. Ein Beispiel dafür ist der Takt des eigenen Körpers: Atmung, Herzschlag, Schlafen und Wachen, Nahrungsaufnahme und Verdauung. Doch auch im Seelenleben, in Wirtschaft und Politik gibt es Eigenzeiten. Wenn Safranski die Probleme aufzählt, die sich aus der Dominanz der Uhrenzeit gegenüber den jeweiligen Eigenzeiten ergeben, wird er erneut zum Gesellschaftskritiker: «Erinnert sei hier nur an die durch Beschleunigung bei Produktion, Konsum und Mobilität verursachten Umweltschäden, an die Phänomene der Verwahrlosung in der Folge des medialen Trommelfeuers, an den konfliktträchtigen Gegensatz zwischen der beschleunigten Industriewelt und der unfreiwilligen Langsamkeit der armen, unterentwickelten Welt; und an die immer häufiger auftretenden Zeitpathologien, die Depressionen und Hysterien, die entstehen, wenn der Einzelne zu stark unter Strom gesetzt oder leer und ausgebrannt zurückgelassen wird.» (181) Angesichts dieser Probleme fordert Safranski «eine neue Zeit-Politik, eine Revolution des gesellschaftlichen Zeitregimes, das den Schutz und die Entfaltungsmöglichkeiten der jeweiligen Eigenzeiten einbezieht, psychologisch, kulturell, wirtschaftlich.» (Ebd.)

Im neunten Kapitel erzählt Safranski von den Möglichkeiten eines «Spiels mit der Zeit» in der Kunst. Im Anschluss an Bachtins «Chronotopoi» werden verschiedene Zeitmuster der Literatur aufgewiesen: die lineare Zeit des Bildungsromans, die vernetzte Zeit des Gesellschaftsromans, die zyklische Zeit immergleicher Vorgänge bei Stifter und Handke, die Mischform, bei der in zyklische Vorgänge etwas Neues einbricht, und zuletzt der «Krebsgang», die Vergangenheitserforschung des analytischen Dramas (etwa des «König Ödipus» von Sophokles) und der Detektivgeschichte. Wird in diesen Betrachtungen die Vielschichtigkeit und Vielseitigkeit des Themas «Zeit» noch einmal bewusst, so leiten die Gedanken über «Augenblicke der wiedergefundenen Zeit» (223) in Prousts «Recherche» und über die «geordnete Zeit» (224) der Musik bereits zum letzten Kapitel über, zu den Themen der «erfüllten Zeit» und der Ewigkeit.

Große Zeugen eines erfüllten Augenblicks werden hier aufgerufen: Meister Eckhart mit seinem Gedanken eines «stehenden Jetzt» (nunc stans); Nietzsche mit seinem Erlebnis am Surlej-Felsen von Silvaplana, das er später – wie Safranski kritisch anmerkt – zum «Konstrukt» einer ewigen Wiederkehr des Gleichen erstarren ließ; und schließlich Hofmannsthal, der in seinem «Chandos-Brief» meisterhaft die Epiphanie einer reinen Gegenwart beschrieben hat. Es sind diese Passagen, in denen Safranski dem Gedanken der «Zeitfreiheit» von Gebser wohl am nächsten kommt.

Das Buch schließt mit Überlegungen zu Tod und Unsterblichkeit. Den Unsterblichkeitshoffnungen von Platonismus und Christentum steht der Gedanke gegenüber, dass «das individuelle Leben sich wieder in das Allleben auflöse» (246) und dass sich dieses «Allleben» in zyklischen Erneuerungsprozessen des Entstehens und Vergehens erhalte. Doch wird dieser Gegensatz (der auch dem zwischen den monotheistischen Religionen und den östlichen Religionen des Hinduismus und des Buddhismus entsprechen dürfte) von Safranski nicht zugunsten einer Seite entschieden, sondern lediglich aufgezeigt.

Indem Safranski sehr viele Themen behandelt oder auch nur anschneidet, erliegt er manchmal der Gefahr der Oberflächlichkeit. Andererseits bietet er auf diese Weise auch viele Impulse zum Weiterdenken und zur Vertiefung der angeschnittenen Themen. Die Lektüre dieses Buches lohnt sich deshalb für jeden, der einen tieferen Einblick in Gebsers Lebensthema «Zeit» gewinnen will. Allerdings wird man bei Safranski keine fertigen Antworten und keinen neuen, originellen Entwurf finden, sondern eher Anregungen zum Weiterdenken – und zum Neubedenken der Thesen Gebsers.

Daniel Zöllner

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