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Peter Gottwald: Verirrung und Vergänglichkeit des Individuums im Lichte der Gestalt des Dr. Faustus, eines Abendländers, betrachtet, im Drama dargestellt und im Essay reflektiert

Peter Gottwald, der ehemalige, langjährige Präsident der Gebser Gesellschaft, der an der Universität in Oldenburg immer noch Seminare über Gebser durchführt, hat ein neues Buch geschrieben: «Verirrung und Vergänglichkeit des Individuums». Er hat sich, wie wir wissen, in seinem Leben nicht nur intellektuell, sondern auch übend viele Jahre auseinandergesetzt mit Zen, mit Gebser, Kafka und der Faustgestalt, die auch hier wieder im Zentrum steht. Mit diesem Buch zieht er Bilanz. Was von all dem bleibt unter dem Strich gültig und ist noch wahr? Nicht viel, aber doch Wesentliches. Das wer de ich hier gleich ausführen.

Zuerst aber ein kleiner Überblick über den Inhalt des Buches von alles in allem 69 Seiten: Es umfasst ein Theaterstück: Dr. Faust in Nöten, ein Drama in drei Akten, einen Essay, der die Autonomie des Individuums thematisiert, und drei Anhänge, die eine Art aphoristischer Kommentar zum Grundthema des Buches sind. Man muss sich beim Dreiakter auf einiges gefasst machen, Goethe gibt grob die Form und die Stimmung zwischen Ernst und Scherz, Kafka den geistigen Akzent und roten Faden, Gebser ab und zu ein zentrales Stichwort. Am Schluss bekommt Gebser allerdings noch ein besonderes Gewicht im Zusammenhang mit der Übung des Zen.

Doch das Ganze von vorne: Gott ist im Rollstuhl, andere metaphysische Gestalten sind heruntergekommen und schwach geworden. Faust, der alternde Psychologieprofessor, wie es im Personenverzeichnis heisst, scheint ein alter ego des Schreibenden zu sein. Der Erste Akt ist die Zeit vor der Begegnung mit Zen, in der aber bereits die Begegnung mit dem Tod stattfindet, im Zweiten Akt übt Faust Zen. Sein Denken und Diskutieren mit seinen Studenten und Studentinnen kreist weiterhin um die Aphorismen von Kafka, er sucht nicht mehr Wissen, er möchte Erkenntnis. Im dritten Akt versucht er diese Erkenntnis, die keine abschliessende ist, zu vermitteln. Mehr ist von Faust zur Enttäuschung einiger Studenten nicht zu erfahren als die Aufforderung: Der Mensch erwache zu seiner eigenen Verantwortung, fange an mit der Übung der Bewusstwerdung, Atemzug für Atemzug. Hilfreich für diese Übung ist die bei Gebser erfahrbare Bewusstseinsklarheit in Bezug auf die verschiedenen, uns bestimmenden Bewusstseinsstrukturen. So erst kann Freiheit entstehen, so kann eine neue Welt entstehen. Wir kommen nicht in den Himmel, wir treten bestenfalls ein in den ewigen Strom des Werdens. Faust/Gottwald schaut ehrlich und mit kritischem Blick auch auf sich selbst. Er lässt den metaphysische Glauben, den Wust des Wissens hinter sich, sogar die professorale Autorität setzt er, wie die letzte Szene zeigt, aufs Spiel, ja auch alles Machen wird ihm suspekt, selbst beim Üben. Für ihn ist das Üben eher ein Sich-Anvertrauen, Sich-Aussetzen. Wenn Faust am Ende des Stücks die Augen schliesst, ist er ein Freund der Menschen, der es auch nicht besser weiss und weiterhin herausgefordert ist durch die treffende Frage einer Studentin: «Wo bleibt die Praxis? Wenn es schon keine Theorie mehr gibt?»

Auf diese Frage gibt dann der Aufsatz, der auf das Fauststück folgt, eine mögliche Antwort: «Jenseits des autonomen Individuums – Möglichkeiten und Grenzen der Selbstwahrnehmung». Hier wird auch die mitmenschliche Dimension erörtert. Dafür ist der Egomane Faust kein Vorbild mehr, diese Form der egozentrischen Sinnsuche ist heute vorbei. Die Beziehungsfrage rückt in den Vordergrund. Heute geht es um die Hoffnung auf einen zivilisierten, gewaltfreien Umgang untereinander.

Das Buch ist bei aller aphoristischen Leichtigkeit und Sprunghaftigkeit ein ernster Appell, wach zu sein. Wir können mit Üben anfangen. Jederzeit.

Rudolf Hämmerli

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