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12. Treffen der Jean Gebser Gesellschaft am 22.3.13 am Berner Münsterplatz

Peter Streiff

«Gewidmet der Langeweile, der Achtsamkeit und der Geduld»

War das ein schöner Abend der Gebserleute im Kursraum am Münsterplatz – leise, erfüllt von stiller Wahrnehmung und interessiertem Horchen, offen, kon-zentriert, neugierig. Und mit einem Peter Streiff, Jahrgang 1944, freischaffender Musiker (Cello), Komponist und Pädagoge, der «als stiller Zeitgenosse in einer immer lauter, schneller werdenden Zeit mit seinen Werken einen Kontrapunkt» setzt, wie die Einladung ankündigte. Ebenso wie seinen Versuch, «einen Einblick in das Handwerk einer Werkentstehung zu geben und nach der Wirkung zu fragen». Dabei hat der erfahrene Pädagoge, dem es ein Anliegen ist, Kinder an die zeitgenössische Musik heranzuführen, auch uns als erwachsene Laien achtsam an die Hand genommen. Zunächst hat er uns mit Musikbeispielen von Mozart, Debussy, Webern und Boulez den Weg von der Klassik in die Moderne erleben lassen – mit ihrem Aufgeben von Perspektive und hörbar fester Struktur über impressionistisch schwebende Klänge bis zum Verzicht auf Tonalität, zum Auflösen des Metrums und zur Atomisierung des musikalischen Materials. Was moderne und zeitgenössische Musik den Hörenden abverlangt, ist statt ein lineares Hören ein Hören im Moment, im Jetzt.

Nach diesem Warming up liess uns Peter Streiff anhand eigener Kompositionen erfahren, «wie Töne und Ideen zeitliche Gestalt gewinnen». Dabei ging er von neusten Werken zeitlich zurück auf Sechs Lieder auf Gedichte von Jean Gebser von 1976. Als Kompositionsauftrag hat Streiff 2009/10 Zeitstrahl komponiert für Aulos – das zweirohrige Schilfrohrinstrument, das heute praktisch nur noch von griechischen Vasenmalereien bekannt ist. Es klingt laut, wobei die Lautstärke nicht variiert werden kann, und jedes der beiden Rohre hat die gleichen vier Töne. Was tun damit? Streiff hat die Klänge dieses 2500 Jahre alten Instruments verbunden mit mathematischen und astronomischen Strukturen – und bevor wir das Resultat hören konnten, setzte aus Anlass der Berner Museumsnacht das volle Festtagsgeläut des Münsters auch mit der tiefen Glocke ein und erzwang eine lange Pause, die wir auf Anregung von Anna Stüssi still und lauschend verstreichen liessen – was uns offen, ja auch entschleunigt, gegenwärtig auf das Neue zugehen liess. Ich empfand die 9-minütige Komposition auf dem noch nie gehörten Instrument als unerwartet lautstark und präsent im Klang, die Glissandi und Tonmodulationen irritierend und faszinierend, fremdartig, manchmal von kosmischer Anmutung. Eine Teilnehmende sagte, sie hätte dazu Masken gesehen – worauf Peter Streiff erzählte, das Instrument sei in der Hochblüte der griechischen Kultur im Theater gespielt worden...

 

 

Tönt so Gegenwärtigsein?
Bekannt waren die Instrumente des Streichquartetts Wandelnde Gänge von 1985-87, das sich auf die früheren Werke Partikel I (1970–72) und das Klaviertrio von 1983 bezieht. Wandelnde Gänge ist nicht einer Person gewidmet, sondern «der Langeweile, der Achtsamkeit und der Geduld» und befasst sich mit der Dehnung der Zeit, der Entschleunigung. Die Partikel sind ganz kurze musikalische Teile, die Streiff gar nicht mit Noten notiert, sondern verbal als klare Strukturvorgaben mit offenen Improvisationselementen für die Musizierenden formuliert hat. Damit teilt er ein Stück weit die Autorschaft als Komponist mit den MusikerInnen. Die extrem kurzen Partikel gehen dann in einen ganz langsamen Klangteppich langer Töne über. Ich fühlte mich darin wie schwimmend treibend aufgehoben und der Gedanke bildete sich: so tönt Gegenwärtigsein... Ein anderer Teilnehmer meinte, er habe Frieden erlebt bei dieser Musik, ob das eine Folge der Zeitfreiheit sei, die Peter Streiff habe gestalten wollen? Streiff war sehr erfreut über diese Rückmeldung zur Wirkung seiner Musik. Und sagte wohl nicht zufällig in diesem Zusammenhang, dass er sich als junger Komponist eben von der Atomisierung bei Boulez habe absetzen wollen.

Gebser-Gedichte – vertont noch mehr wert...
Grosses Interesse fanden bei den Gebserleuten natürlich die Sechs Lieder auf Gedichte von Jean Gebser aus dem Jahr 1976. Das erste - wie auch alle anderen mit je einem Ton auf je einer Silbe – war ausschliesslich für Solostimme komponier; die anderen fünf waren in unterschiedlicher Besetzung von Klarinette und Klavier, Gitarre und Harfe, Geige und Cello begleitet. Als Leitgedanken nannte Streiff, dass die Instrumente eher die fixe Struktur geben, während die Singstimme schwebend ist; ein Gedicht komme in Anlehnung an frühbarocke Gestaltungsmittel rezitativartig und mit Pizzicati unterlegt daher. Streiff war von diesen Gedichten fasziniert, weil Gebser philosophische Gedanken in poetische Gestaltungen überzuführen vermag, weil er Sprachrhythmen gestaltet, Farbklänge erschafft – und aus dem Kreis der Hörenden kam die Rückmeldung, dass die Vertonung den an sich schon eindrücklichen Gedichten einen eindeutigen «Mehrwert» gebracht habe, eine Erweiterung des Raums, eine Öffnung in neue Dimensionen.

Ein bereichernder Gebser-Abend mit freier, kompetenter Präsentation und einem schönen, offenen Austausch – und für alles war Zeit und Atem. Es ist gut, dass der Vorstand (ja, ich war auch dabei und dafür ...) von den Zwei-Themen und Zwei-ReferentInnen-Abenden zum Konzept «Ein Thema, ein/e ReferentIn» übergegangen ist ... und so soll es, in inzwischen bewährter Manier, auch bleiben.

Ursa Krattiger

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