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13. Treffen der Jean Gebser Gesellschaft am 25.10.13 am Berner Münsterplatz

Urs Dietler

«Gebser und Steiner – auf ähnlichen Wegen,
aber anders unterwegs»


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Selbstlob stinkt zum Himmel, ich weiss, es sei mir aber dennoch erlaubt, weil es sich ja auf ein Kollektiv bezieht: Der Vorstand der JGG war geradezu weise, als er sich vor nicht allzu langer Zeit dazu entschloss, an den Berner Treffen am Münsterplatz jeweils nur noch ein Thema zu behandeln und nur noch eine/n Redner/in dazu einzuladen. Auf jeden Fall war es bereichernd, sich ganz auf Urs Dietler einzulassen, wie er da frei redend vor seinem Notenständer stand, sprach und von Zeit zu Zeit zur Flipchart ging und etwas skizzierte oder notierte – sich entschuldigte, dass er zu lang werde und um das Recht bat, weiterzureden, was ihm lange gewährt wurde – bis das Fassungsvermögen vieler dann erschöpft war, wobei unser Prä-sident Ruedi Hämmerli die Zeiterfahrung dieses Abends wunder-schön zusammenfasste: «Ja, der Vortrag war lang – aber ich blieb immer in der Gegenwart, weil Urs Dietler denkend geredet hat.» Aufgrund dieser eigenwilligen Abendgestaltung fällt mein Bericht entsprechend willkürlich, fragmentarisch und subjektiv aus.

Zweite Besonderheit dieses Abends: In der Regel interessiert nicht, ob die Teilnehmenden am Münsterplatz Vorkenntnisse oder gar Vorerfahrungen zum angekündigten Thema haben und wenn ja, welche. Das war am 25.Oktober anders. Christian Bärtschi, der Urs Dietler als Philosophen und Mathematiker, als langjährigen Waldorflehrer und Mitarbeiter am Steiner-Archiv in Dornach dazu  eingeladen hatte, über Gebser und Steiner zu referieren, er sprach es in seiner Begrüssung an: es gibt viele JGG-Mitglieder, die eine Geschichte mit Steiner und einen durchaus auch positiven Bezug zur Anthroposophie haben, und gleichzeitig gibt es nicht wenige andere, die Steiner und seiner Bewegung skeptisch, kritisch bis offen ablehnend gegenüber stehen. Urs Dietler, der darüber auf dem Laufenden war, verstand seine Ausführungen deshalb als Beitrag zur «interkulturellen Begegnung» und betonte die Gemeinsamkeiten der beiden bedeutenden Denker, ohne Differenzen auszulassen. Für ihn selber wurde das Erarbeiten dieser Thematik nämlich «zu einer Art Bergtour mit vielen Aussichten». Und er war dafür der berufene Fachmann, hatte er sich doch 1980 mit 30 Jahren alle Gebserbü-cher gekauft und beim Lesen einen wahren «Erkenntnis-Flash» erlebt. Steiner war ihm schon viel früher bekannt, und so wurde und blieb Dietler ein Anthroposoph – aber einer, der zeitlebens über den Tellerrand geschaut hat und schaut.

Keine persönliche Begegnung
der beiden Denker

Persönlich haben sich Steiner und Gebser nicht kennen gelernt, war Steiner doch 44 Jahre älter als Gebser und Gebser erst 20, als Steiner 1925 starb. Gebser hatte aber durchaus Kenntnis von Steiners Werk und nahm mit einer Mitarbeiterin Steiners, Lili Kolisko, wegen ihrer Arbeiten über Planetenwirkungen, die er sehr positiv beurteilt hatte, Kontakt auf. Leider hat sie ihm nicht geantwortet. Auch gab es 1947 einen Briefwechsel zwischen Gebser und Herrn Froboese vom Steiner-Archiv mit einer Einladung nach Dornach, aus der damals aber nichts geworden ist. Anders dann 1966, wo Gebser auf Einladung des anthroposophischen Denkers Herbert Witzenmann an einer Tagung der sozialwissenschaftlichen Sektion über unser Verhältnis zu Asien referierte. In der Anthroposophie kam nicht so gut an, dass Gebser Steiner und sein Werk als synkretistisch – als etwas «Zusammengesetztes» – beurteilte. Gebser hatte und hat aber auch im Lager der Antroposophie Verehrerinnen und Anhänger, nicht zuletzt, was seine Dichtung angeht. Und da gibt es einen Hans Erhard Lauer, der ihn hoch lobte und meinte, die Anthroposophie könne noch viel von Gebsers phänomenologischem Ansatz und seinem diaphanen Blick lernen.

Heimatlose mit Bezug zu Bern
Die Gemeinsamkeiten von Steiner und Gebser stehen ausser Zweifel, bezeichnet doch schon die Einladung sie als «zwei Denker des 20. Jahrhunderts, die zur Überwindung des rational-materialistischen Weltbildes Entscheidendes beigetragen und als Geistesverwandte unabhängig voneinander an einer neuen Weltsicht gearbeitet haben». Konkret hatten beide einen Bezug zur Stadt Bern – Gebser, weil er über Burgdorf nach Bern kam, jahrzehntelang hier wohnte und in Bern wohnhaft auch Schweizer Bürger wurde. Steiner hat in Bern über 60 Vorträge gehalten, die meisten im Berner Rathaus, und die Folgen seines Wirkens sind im Raum Bern unübersehbar – von den Steinerschulen über Demeter-Bauernhöfe, Bioläden bis ins Rüttihubelbad. Dennoch waren beide Heimatlose – Gebser als der aus Thüringen stammende «verlorene Sohn» eines heruntergekommenen Adelsgeschlechts, der dann über Berlin nach Spanien emigrierte, das ausgebombte Madrid Richtung Paris verliess und dann kurz vor Schliessung der Grenzen in der Schweiz landete. Steiner, aus dem k.u.k.-Bahnwärterhäuschen seines Vaters in Ungarn stammend, zog über Wien, Berlin und Weimar in die Welt der Wissenschaft und Kultur, verbrachte seine Tage meistens in Lebensformen, die wir heute WGs nennen und war praktisch ständig auf Reisen, sei es im Zug, Schiff oder Auto. Diese Heimatlosigkeit mag bei beiden dazu beigetragen haben, dass sie als unablässig  suchende, forschende Philosophen bisherige Denkwelten so radikal sprengen und neue Horizonte eröffnen konnten.


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Die akademische Welt
stand mit beiden
auf Kriegsfuss

Beide Philosophen haben eine neue Bewusstseinsgeschichte erschaffen – und hatten, nicht zuletzt deswegen, ein gebrochenes Verhältnis zur akademischen Welt. Wobei richtigerweise zu sagen wäre: die akademische Welt hatte ein gebrochenes Verhältnis zu ihnen. Urs Dietler brachte es auf den Punkt: da sie nicht im Materialismus und Positivismus stecken blieben, waren sie gefährlich, weil sie anders dachten. «Man» wollte sie nicht dabei haben und machte sie zum «outcast», warf sie hinaus wie in neuerer Zeit den Forscher Rupert Sheldrake mit seinen morphogenetischen Feldern.
Bei Gebser waren fehlende Abitur- und akademische Zeugnisse und Titel der Vorwand für die Verweigerung. Steiner Dissertation wollte zuerst niemand haben – und später wollten die Hochschulen nichts wissen von seinem Versuch einer wissenschaftlichen Erkenntnis der geistigen Welt. Von der ETH weiss man, dass Gebser in der Originalität seines Denkens und seiner Eigenständigkeit durchaus wahrgenommen wurde – und eben wegen dieses Kalibers auf keinen Fall in Frage kam! Der Weg über eine akademische Laufbahn mit entsprechender materieller und sozialer Absicherung blieb also beiden versperrt. Aber beide hatten einen grossen Bekanntenkreis bedeutender Persönlichkeiten sowohl in Kultur, Geistesleben, Politik und Wirtschaft wie auch an Hochschulen. Unvergessen ist der Kampf von Jean Rudolf von Salis für eine Honorarprofessur, die Gebser schliesslich auch bekam – bloss zu spät: aus gesundheitlichen Gründen konnte er sie nicht mehr  antreten.  
Nicht zuletzt in dieser geteilten Erfahrung als «Ausgestossene» entwickelten beide Privatgelehrten ein Selbstbild als Lehrer, als Mahner, als «Rufer», möchte ich fast alttestamentarisch sagen, die erkennen und verkünden, dass es an der Zeit ist, dass wir verantwortlich handeln müssen, dass ein neues Zeitalter, eine neue Bewusstseinskultur anbrechen wird. Dabei sprach Gebser von der «Konkretion des Geistigen», und Steiner strebte eine Intensivierung und Verlebendigung des Denkens an, er wollte, wie es Dietler nann-te, eine «exact clearvoyance» entwickeln – und von Salis selber bezeichnete Gebser als einen Menschen mit seherischen Qualitäten.

Bei beiden bricht die lineare Zeit weg
Gemeinsamkeiten gibt es auch beim Nachdenken über die Zeit. Wo bei Gebser «der Einbruch der Zeit» zu den Hauptmerkmalen des integralen Bewusstseins gehört, redet Steiner in einem autobiographischen Fragment, das er für den Elsässer Autor und Freund Édouard Schuré geschrieben hat, vom «Doppelstrom der Zeit». Der nach vorne strebenden Evolution kommt eine «Involution des Geistigen» entgegen, und im Menschen wirken – sozusagen von hinten – nicht nur die Vergangenheit, sondern gleichzeitig die Zukunft – sozusagen von vorne und als Ursache des Neuen. Und diese beiden Zeitstränge treffen auf der Achse zwischen Leib/Sinneswelt sowie der Ichkraft eines Menschen in der Mitte aufeinander. Steiner redet auch davon, dass der Mensch in seinem Erinnern zurück kann – bis ins Vorgeburtliche, ja bis in frühere Inkarnationen. So wurde er im Westen zu einem der eindrücklichsten Vertreter des Inkarnationsgedankens im 20. Jahrhundert, und es wundert nicht, dass auch Gebser in seiner intensiven Auseinandersetzung mit dem östlichen Denken – klar, nüchtern, unsentimental – zu einem Vertreter der Reinkarnation wurde. Beiden Philosophen ist es jedoch ganz klar, dass es keine «Rückkehr» zur östlichen Weisheit geben soll. Vielmehr soll sich Europa mit seiner eigenen Geschichte damit verbinden, indem es daran anknüpft und eine neue Zusammenschau entwickelt. Dietler schreibt Gebser die östliche Lebenshaltung des wu wei zu – des «Nicht-Eingreifens» oder «Handelns durch Nicht-Handeln», eine Haltung, die auch in den letzten Schriften Gebsers kristallklar zum Ausdruck kommt als Merkmal eines Menschen in der Zeitfreiheit. Auf die Frage «Was bleibt zu tun?» würden, so Dietler, beide Denker die Antwort geben, dass die individuelle Transformationsleistung jedes einzelnen Menschen dazu beitragen soll, Welt und Bewusstsein zu verwandeln. Gebser würde sagen: In Richtung des Integralen.

Steiner gründete eine Bewegung, Gebser nicht
Und wo liegen die Unterschiede? Gebser blieb ein Privatgelehrter mit seinem Kreis von Förderern, Unterstützern, Auftraggebern, Publizisten, auch ihn tragender Frauen – bei aller Frage nach der Existenzsicherheit immer auch sehr um seine Unabängigkeit und Eigenständigkeit besorgt. Steiner hingegen gründete eine Schule, eine Bewegung und hatte fortan mit dem Problem der Anhänger und Anhängerinnen zu tun, die seine Bewegung zwar trugen und finanzierten – und dies bis auf den heutigen Tag, ihm aber auch unendliche Auseinandersetzungen und Konflikte bescherten – und der Bewegung ebenfalls bis auf den heutigen Tag. Gebser blieb als Philosoph, Autor und Vortragender bei seinem Leisten und entwickelte eine «Phänomenologie des Diaphanen, in der das Geistige erscheint», so Dietler. Darin lebte er, das sah er, daraus zog er seine Schlüsse, diese teilte er als Erkenntnisse mit. Viele dieser Impulse wurden aufgenommen, werden weitergereicht, zum Teil wörtlich zitiert – aber der Autor, der Denker bleibt dennoch unerwähnt, ungewürdigt, wird meistens verschwiegen, negiert. Ähnliches widerfährt Steiner, obwohl er ganz anders vorging: Er gab seine Einsichten als Anregungen hinaus ins konkrete Leben und in die Entwicklung mehrerer Praxisfelder wie Pädagogik und Sonderpädagogik, Medizin, Pharmazie und Kosmetik, Landwirtschaft, Theater und  Bewegungskunst. Einige davon sind bis heute weltweit berühmt und anerkannt – während einige der darin Aktiven von ihrem Gründer nichts oder nicht mehr viel wissen wollen

Zwei Philosophen und zwei Künstler
Und zuletzt ein Unterschied wie auch eine Gemeinsamkeit: beide Philosophen waren oder wurden Künstler. Steiner hinterliess neben seinen Schriften Wandtafelzeichnungen, Gemälde und Skulpturen, er war Architekt und regte eine neue Art von Design an. Er leitete neue Arten des Tanzens an (Eurythmie) sowie des Rezitierens und Sprechens auf der Bühne (Sprachgestaltung). Und er schrieb Liturgien, Sprüche und Gedichte. Gebser künstlerische Leistungen, neben dem Übersetzen spanischer Gedichte ins Deutsche, war neben dem Schreiben seiner Vorträge und Schriften «nur» das Verfassen von Gedichten – Urs Dietler würdigt sie als «Gedankenlyrik». Aber so Dietler, selbst sein kulturphilosphisches Schreiben geht über das Philosophische hinaus, denn auch seine Prosa wurde und ist durch und durch poetisch.

«Nur Heimatlosigkeit weist/über den Menschen hinaus,
über sein Hier- und Dortsein, und es erahnt sich in ihr
die verborgene Blüte: die gänzliche Liebe»
(Jean Gebser, Ariadnegedicht)

Ursa Krattiger/31.10.2013

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